Der Mensch - ein Säugetier der Traglinge
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Fürsorge und Sozialisation des Säuglings – ein evolutionäres Modell

Org. Titel «Omsorg for og sosialisering av spedbarn - en evolusjonær modell»
veröffentlicht im: «Impuls», Tidsskrift for Psykologi (Universität in Oslo), 2001, 55 (3), S. 46- 54.
und in: ”Kognition & Pædagogik” Tidsskrift om tænkning og læring, 2003, 13 (49), , 33-47 (DK),
Von der Autorin und Ingeborg Butz aus dem Norwegischen übersetzt.Revidiert und redigiert: 2006

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Solveig Albrecht Wahl

In den industrialisierten Ländern ist die Sozialisation des Säuglings von der Angst dominiert, dass die Befriedigung der signalisierten Bedürfnisse dem Säugling Macht gäbe. Man glaubt, die Macht wird durch den Erfolg der Bedürfnisbefriedung erlernt und später ungehemmt zum Manipulieren der elterlichen Zuneigung und dem Tyrannisieren der Umgebung benützt. Deswegen meint man auch, Kleinkinder frühzeitig an strenge Zeitpläne und generelle Ordnungsprinzipien gewöhnen zu müssen. Auf diese Weise entsteht eine kinderfeindliche Form der Sozialisation, die wahrscheinlich ungünstige Wirkung auf die weitere ontogenetische Entwicklung hat (Schiefenhövel & Schiefenhövel, 1996).

Im Gegensatz zu diesen Befürchtungen stehen Untersuchungen, dass das Tyrannisieren und Manipulieren in heute noch existierenden Sammler- und Jägerkulturen, wo eine kindzentrierte Fürsorge praktiziert wird, ein unbekanntes Phänomen ist. Im Gegenteil, die Kinder sind höflich, hilfreich – ganz einfach wohlerzogen. Mehrere Forscher meinen, in diesen alten Kulturen handelt und verhält man sich in Übereinstimmung mit den gemeinsamen phylogenetischen Erfahrungen der Menschheit, etwas, was in unserer Kultur verlorengegangen zu sein scheint.

Aber was sind unsere gemeinsamen phylogenetischen Erfahrungen? Die Antwort, meinen Forscher im Leben und Tun der Menschen heutiger Steinzeitkulturen finden zu können. Bei der Max-Planck-Forschungsstelle für Humanethologie interessiert man sich für die Frage, wie Homo sapiens sapiens die Bedürfnisse des Säuglings, Kleinkindes und des Kindes beantwortet hat, und welche evolutionären Grundformen der Interaktion typisch für unsere eigene Spezies sind. Forscher haben alte Kulturen untersucht: Friedliche, wie die Inuit in Alaska, das !Kungvolk in Botswana, die Trobriander auf Papua-Neuguinea, und kriegerische, wie das Eipovolk im Hochland von West- Neuguinea, das Yanomamivolk in Venezuela und Himbavolk in der Süd-West Kalahari. Gemeinsam ist diesen Völkern die Art der Fürsorge, die sie ihren Säuglingen zukommen lassen.

In Jean Liedloffs Buch «Die Suche nach dem verlorenen Glück» (1996) wird der Alltag des friedlichen Yequanavolkes in Venezuela geschildert. Die Fürsorge und die Sozialisation der Kinder wird darin ausführlich beschrieben. Mehrere von Liedloffs Beschreibungen stimmen überein mit dem, was Forscher herausgefunden haben. Ihr Buch hat wesentlich zu meinem Verständnis für die Lebensart alter Kulturen beigetragen, und ist deshalb in diesen Artikel mit einbezogen.

Auf der Grundlage von Liedloffs Beobachtungen, der Forschungsresultate von Humanethologie, Ethnologie, Ethnomedizin, Neurologie, Verhaltensforschung und Anthropologie werde ich versuchen, ein evolutionäres Modell der Fürsorge für den Säugling und seine Sozialisation zu beleuchten. Ein solches Modell habe ich schon kurz im Artikel «Auf Mutters Bauch: sozialer Uterus für Säuglinge» skizziert (Wahl, 1998).

Um das Modell zu stützen, werde ich einen kleinen Umweg gehen. Ich werde einen historischen Rückblick auf ca. Jahr 1200 v. Chr. machen. Die Zeit vor 3000 Jahren kann uns etwas über den Hintergrund des kulturellen Erbes unserer eigenen Zivilisation sagen – ein Erbe, welches ich als ein Abweichen vom Kontinuum des Evolutionsprozesses betrachte. 
Es ist auch wichtig für mich, anderes Wissen über die evolutionäre Entwicklung des Menschen in mein Thema einzubeziehen, da ich die herrschende Meinung von dem 3000 Jahre alten kulturellen Erbe dominiert sehe. Dieses Erbe bekam einen direkten Einfluss auf die Bedingungen der Frauen und Kinder in unserer Zivilisation.

Unser kulturelles Erbe
- Homo sapiens sapiens

Die Frage des Ursprungs der in unserer Zivilisation geringen Stellung des Kindes hat mich schon lange beschäftigt. Das gleiche gilt für die Frau und die eng an sie verknüpfte Kinderfürsorge. Eine Erklärung meine ich in der Kultur, die sich im Mittleren Osten vor drei bis viertausend Jahren entwickelte, finden zu können. In dieser neuen Kultur wurden Frauen und Kinder zum Eigentum der Männer. Die selbe Kultur brachte auch eine neue Ansicht über das Verhältnis zwischen Natur und Mensch hervor. Diese Einstellung wurde später unter anderem über das Alte Testament an viele andere Kulturen verbreitet.

Das Alte Testament ist eng mit der Geschichte des jüdischen Volkes verknüpft, wie es auch Abba Eban in seinem Buch «Das ist mein Volk. Die Geschichte der Juden» (1970) vermittelt. Ebans Beschreibung der Geschichte der Juden berührt die eine Hälfte des Volkes - den männlichen Teil. Frauen und Kinder werden nur ein paar Mal als Sammelbegriff erwähnt. Sein erstes Kapitel im Buch heisst faktisch «Das Zeitalter der Patriarchen». Über eine andere Neuordnung erzählt Eban im Kapitel «Die Hebräische Revolution». Er schreibt, dass so bald das Schicksal des Menschen vom Kreislauf der Natur getrennt werde, es auch vom Fatalismus und dem Gebot des ewigen Wiederholens gelöst sei.... Damit sei dem Menschen eine einmalige und aktive Fähigkeit gegeben, die, im Gegensatz zu allen Naturwesen, seine Würde ausmache.

Die Trennung zwischen dem Mensch und der Natur tritt um 1200 v. Chr. in Erscheinung. Nach Eban ist diese Neuordnung aus einer primitiven, naiven und intimen Vergangenheit in eine erhobene Zukunft hinein gewachsen. Er betrachtet es als einen Fortschritt und eine Revolution in der Auffassung vom Menschen. Es wurde Ordnung im Chaos geschaffen. Mehrere Forscher meinen heute, dass der Mensch sich außerhalb des Zusammenhanges gestellt hat. Bergljot Børresen sagt, Homo sapiens sapiens ist «Der einsame Affe» geworden (1996). (Homo sapiens sapiens ist die Bezeichnung, die die Wissenschaftler unserer Kultur dem modernen Mensch gaben)

Hat es vor dem patriarchalischen Zeitalter und der Trennung zwischen Mensch und Natur eine Zeit gegeben, wo Frauen ein starkes Engagement in, und Einfluss auf die Gesellschaft hatten? Ja, meinen mehrere Forscher. Ich werde hier dieses Thema nicht weiter verfolgen.
In diesem Zusammenhang ist nur wichtig, dass das Abweichen vom Kreislauf der Natur und die patriarchalische Struktur - das ca. 3000 Jahre alte Erbe - deutliche Spuren u.a. in unserer Geschichtsschreibung und in der Forschung hinterlassen haben.

Evolution
- eine andere Geschichte

Auf Grund der Entwicklung einer patriarchalischen Grundauffassung haben Frauen und Kinder eine passive Rolle in der Geschichte der menschlichen Evolution bekommen. Im Buch «Der Anteil der Frau an der Entstehung des Menschen“ (1997) setzt sich die Anthropologin Nancy Makepeace Tanner wissenschaftlich mit der dominierenden Theorie auseinander, dass das Verhalten des Jägers (lies: des Mannes) die Evolution fast alleine weiter trieb. Tanner greift auf die Zeit von vor fünf bis sechs Millionen Jahre zurück, zu der Übergangspopulation zwischen Schimpanse und Australopithecus.

Die Bonobos – eine feingliedrige Schimpansenart –  sind genetisch gesehen unsere allernächsten Verwandten. Nur ein Prozent der Gene hat sich seit der Trennung verändert und unterscheidet uns Menschen von ihnen (Übrigens sind bei Bonobos die Feminae die Gruppenleiterinnen). Um unsere eigene Evolution verstehen zu können, nimmt Tanner die Anatomie, Physiologie, die Gene, das Verhalten und das sozialen Leben der heute lebenden Schimpansen als ihren Ausgangspunkt.

Die reproduktive Rolle der Frau hat schon immer die Aufmerksamkeit der Evolutionsforscher erhalten, während das Verhalten der Frauen und Kinder, die frühe Entwicklung der Intelligenz, Bildung des Weinens, Lächelns und der Kinderlaute, welche eine wesentliche Rolle für das Überleben gespielt haben können, bis zum letzten Viertel des letzten Jahrhunderts völlig ignoriert wurden.

Da die Urfrau Verantwortung für ihren Sprössling hatte, ihn versorgen musste, muss sie stark zur Evolution unserer Spezies beigetragen haben, argumentiert Tanner. Es müssen unsere Vormütter mit Kind gewesen sein, die Vorteile durch das Aufrechtgehen hatten. Sie konnten ihre Kinder tragen, gleichzeitig Essen sammeln, es zu Sammelplätzen bringen und es dort mit anderen teilen. Nachkömmlinge, die Mütter mit genügend Intelligenz hatten, Essen zu finden, zu sammeln, es vorher zu kauen und ausreichend mit ihren Kindern zu teilen, hatten einen Vorteil im Kampf ums Leben. Die Kinder, die überlebten, die Techniken der Mutter erlernten, sie verbesserten und ihrerseits willig waren zu teilen, wie es ihre Mütter taten, hatten die beste Chance, lange genug zu leben, um sich fortpflanzen zu können.

Die Urfrau musste erfinderisch sein. Werkzeug erleichterte ihre Versorgerpflichten. Das Kind erlernte die Technologie der Mutter durch das Beobachten ihrer Tätigkeiten und vermittelte die Techniken an eigene Nachkommen weiter. Es war die Erfindungsgabe der Frau, die unter anderem die Evolution stark weiter förderte, meint Tanner.

Der Mensch
- ein Säugetier der Traglinge

Es soll unbeantwortet bleiben, ob Homo sapiens sapiens vor 200 000 dachten, oder ob Menschen in existierenden Sammler- und Jägerkulturen heute denken, sie wissen dass sie denken, im Gegensatz zu Tieren oder Hominiden vor unserer Zeit, oder ob die Bezeichnung homo sapiens sapiens (der denkende Mensch, der weiß, dass er denkt) nur ein Ausdruck der Erhabenheit unserer Zivilisation über alles Naturwesen ist. Sicher ist, wir Menschen gehören zu den Säugetieren der Traglinge. Das bedeutet, dass das Tragen des Sprösslings, wahrscheinlich durch Jahrmillionen hindurch, entwicklungsmässige Konsequenzen bekommen hat, etwas, was mein Hauptanliegen in diesem Artikel ist.

So lange die Hominiden Pelz hatten, war es kein Problem, den Nachkommen mit sich zu transportieren; nach ein paar Wochen konnte er sich selber im Pelz der Mutter festhalten. Aber der Menschenkörper wurde glatt. Die Frau musste nun selber dafür sorgen, sich und das Kind zusammen zu halten. Um die Hände wieder frei zu bekommen, experimentierte sie. Die Schlinge war ein technologischer Fortschritt. Nun konnte sie das Kind, die Werkzeuge und das Essen gleichzeitig tragen (Tanner, 1981).

Man kann bei Säuglingen beobachten, dass diese älteste Form der Aufsicht und des Transportes wahrscheinlich zu einer genetisch bedingten Erwartung wurde. Wenn sie hochgehoben werden, ziehen sie sofort die Beinchen hoch und spreizen sie (der so genannte „Spreiz-Sitz-Reiz“) Mit zunehmender Körperbeherrschung kann ein Baby sich selber um den Körper des Trägers klammern. Ein zwei bis drei Monate altes Kind kann, wenn der Träger rasche Bewegungen macht, auch aktiv mit den Beinen mithelfen, seinen Körper zu stabilisieren (Kirkilionis, 1999; Schiefenhövel, 1990).

Es gibt Fachleute, die ernsthaft über Säuglinge besorgt sind, die extrem viel weinen. Sie bezeichnen diese als «schwierig zu trösten» und „wenig empfänglich für Umweltreize“ . Forscher haben ein solches Problem in alten Kulturen nicht nachweisen können. Dort weinen Säuglinge kaum und vor allem nicht lange. Das Problem des Weinens scheint in unserer Kultur seine Ursache in der Art der Fürsorge zu haben, die wir unseren Säuglingen geben.

Ein in Montreal 1986 ausgeführtes Experiment zeigt, dass Säuglinge, die mindestens drei Stunden pro Tag im Körperkontakt mit einem Träger sind, zu 43 % weniger weinen als Kinder, die die für uns normale Fürsorge bekommen. (Hunziker & Barr, 1986). Ein solches Resultat kann auch auf eine genetisch bedingte Erwartung des Tragens hinweisen.

Forscher meinen, diese älteste Form des Transportes habe eine zentrale Funktion für die optimale Entwicklung des menschlichen Hüftgelenkes und des Zentralnervensystems, für das Stillen, das Vorbeugen von Koliken und für die psychische, emotionelle und soziale Entwicklung bekommen (Kirkilionis, 1999; Schiefenhövel, 1990).

Kontinuum
- Geburt und Wochenbett

Wie es wahrscheinlich Frauen seit dem Ursprung der Menschheit getan haben, begab sich die !Kung Sanfrau Nisa alleine in den Busch. Sie spürte den Beginn der Geburt ihres Kindes. Der Tag war gerade erwacht. Die junge Frau setzte sich unter einen Baum. Alleine durchlebte sie die Austreibungsphase. Während der Geburt zu schreien gilt in ihrer Kultur als nicht mutig. Sie schrie aber – „in sich hinein“. Hockend gebar sie ihr Kind und es blieb auf der Erde liegen. Die Nachgeburt begrub die junge Frau noch selber, bevor sie ihr Neugeborenes in die Gemeinschaft zurück trug. Als alle später zum Essensammeln gingen, konnten Mutter und Kind in der Hütte zurück bleiben. «Wir beide waren zusammen», erzählt Nisa. Nach einer kurzen Zeit aber trug sie ihr Kind in der Gemeinschaft herum (Shostak, 1984).

Dieser Geburtsbericht zeigt die Stärke und das Selbstvertrauen der !Kungfrau, eine Stärke, die wahrscheinlich eine jede Frau einmal hatte. Eine solche «Allein-Geburt» wird aber nicht (mehr?) in allen alten Kulturen praktiziert, denn in vielen Kulturen wird die Gebärende von anderen Frauen unterstützt.

Der Sprung zu Geburten in unserer Kultur bis um die 1980ger Jahre ist groß.
«Eine frischgebackene Mutter lächelt. Der Vater sitzt neben ihrem Bett und lächelt. Der Arzt im weißen Mantel steht und lächelt. Ein Neugeborenes schreit. Das Gesicht ist verdreht. Die Arme sind in einem V-Winkel gebeugt und die Fäuste werden dicht am Kopf in Augenhöhe gehalten. Die Nabelschnur ist schon durchtrennt. Das Kleine hängt «oben-unten» in der Luft - vom Arzt an den Füssen festgehalten» (Leboyer, 1999 - Foto).

Der erste Schrei des Neugeborenen hat sicher Freude hervorgerufen - ein Zeichen von Leben. Aber die Kinder schrieen weiter, ungefähr die ganze erste Wachperiode hindurch. Die Erkenntnis, dass Neugeborene aus Schmerz und Angst schrieen, gab Leboyer Ende der 1960ger Jahre den Anstoß, die Praktiken seiner Klinik zu ändern. Das Neugeborene wurde nun unmittelbar auf den nackten Bauch der Mutter gelegt und die Nabelschnur durfte fertig pulsieren, ehe sie durchtrennt wurde. Die Auswirkung dieser Änderung erreichte andere Länder in Europa und der USA. In Norwegen fingen einige Hebammen schon früh in den 1970ger Jahren an, die Reform zu praktizieren.

Der Effekt der Neuordnung wurde untersucht. Es zeigte sich, dass Neugeborene, die sofort auf den nackten Bauch der Mutter, auf ihren Brustkorb oder Arm gelegt werden, kaum weinen. Neugeborene, die angezogen im eigenen Bett liegen, weinen ungefähr jede fünfte Minute zwanzig bis vierzig Sekunden (Klaus & Klaus, 1998) Wenn man das Weinen als einen Ruf um Hilfe betrachtet, den Körperkontakt wieder herzustellen, können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass die neuen Praktiken der phylogenetischen Erfahrung des Menschen adäquater sind.

Das «Rooming-in» auf Wochenbettstationen wurde in den 1960ger Jahren als ein Fortschritt angesehen – das Neugeborene durfte tagsüber einige Stunden in seinem Bett neben dem der Mutter stehen. Den Effekt dieser Tatsache ziehen neuere Forschung in Zweifel – auch was die spezielle Mutter-Kind-Bindung betrifft (ein Thema, dass ich hier nicht weiter berühren werde).

Heute können wir die Mängel der Neuordnung sehen: Sie brachte keine Veränderung in den Stillpraktiken (jede vierte oder dritte Stunde) mit sich. Das Neugeborene sollte auch nicht ins Bett der Mutter genommen werden, nicht einmal, wenn es weinte. Ein solcher Gedanke war nahezu ein Tabu. Wie sollte eine frischgebackene Mutter im Laufe der ersten Woche ihr Kind kennen lernen? Sie wusste doch nicht, was in allen den Stunden geschah, wo es nicht bei ihr war.

Wenn gewünscht, können heute Mutter, Kind und Vater zwei Tage ein Einzelzimmer im sog. «Wochenbettgarten» oder ABC-Station in einigen der norwegischen Wochenbettstationen bekommen. Dort kann ohne weiteres ein «Beding-in» rund um die Uhr praktiziert werden. Auch das Stillen nach Bedarf ist kein Problem, was auch der phylogenetische Erwartung des Kindes entspricht. Abgesehen von der Geburt daheim, die einige Frauen wünschen, ist die ABC-Station ein wirklicher Fortschritt für das Neugeborene.

Der Körper
- ein beweglicher Beobachtungsposten

Ein Kontinuum aus Urzeiten und ein Kennzeichen der Fürsorge für Säuglinge in den vorher genannten alten Kulturen ist das Tragen von Geburt an. Auch in vielen anderen Kulturen wird es praktiziert. In traditionalen Kulturen ist das Kind zu mindestens achtzig Prozent der Zeit im Körperkontakt, inklusive nachts, wo es neben der Mutter schläft. Kinder, die sich schon selbst fortbewegen und die Umgebung erkunden können, dürfen wann auch immer, den Arm oder die Hüfte der Bezugsperson wieder aufsuchen (Liedloff, 1996; Schiefenhövel, 1990).

Die Hauptverantwortung fürs Tragen übernimmt zuerst die Mutter. So bald es ihr sicher erscheint oder sie keine andere Wahl hat, überlässt sie das Tragen auch anderen; den älteren Geschwistern, dem Vater oder anderen Fürsorgepersonen. Selbst wenn für die Mutter diese Entlastung von Vorteil ist, beurteilt das Kind es anders. Aus der Perspektive des Kindes gesehen wird die Nähe zur Mutter immer für das Kind Priorität haben (Hrdy, 2002).

Gleich, wer das Kind trägt: Kinder sind ungeheuer neugierig und ein Tragling befindet sich genau dort, wo Aktivitäten und Interaktionen zwischen Menschen vorkommen. Von Anfang an ist ein Tragling Zeuge von dem, was vor sich geht und, nicht minder wichtig, auf welche Weise es geschieht. Von seinem Beobachtungsposten wird das Kind nach und nach im Stande sein, sich einen Eindruck des sozialen Umgangs unter den Menschen und auch von seiner Kultur zu machen.

Wir könnten sagen, dass ein Tragling an erster Stelle durch eigenes Beobachten in die Kultur hinein sozialisiert wird. Dies steht im starken Kontrast zu Säuglingen in unserer eigenen Kultur, die die meiste Zeit von dem sozialen Leben und den Aktivitäten der Erwachsenen getrennt sind, um dann durch Reglementierungen sozialisiert zu werden.

Eine «Kind zentrierte Fürsorge» besagt nicht, das ein Säugling in alten Kulturen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Umgebung steht, ganz im Gegenteil. Außerhalb der Zeit, in der mit dem Säugling gekost und gespielt wird, etwas, was ausschließlich im Takte seiner wachsenden Voraussetzungen geschieht, bekommt es keine Aufmerksamkeit. Das Kind braucht es nicht und wünscht es auch nicht einmal. Es ist nur einfach dort, wo etwas passiert, dabei.

Aus eigener Erfahrung habe ich lernen müssen, einen beobachtenden Tragling nicht anzureden oder auf andere Weise zu stören, um Kontakt zu bekommen; das Kind zieht in diesem Fall den Blick sofort zurück. Dies kann auch dann gelten, wenn der Träger vom Tragling angeschaut wird. Er sucht häufig gar nicht den Kontakt, sondern will höchstwahrscheinlich nur die Mimik des Trägers studieren. Auf diese Weise lernt das Kind nach und nach die verschiedenen Gesichtsausdrücke in der Kombination mit wechselnden Situationen kennen, ein für die spätere Orientierung wichtiges Wissen.

Die Forschung zeigt, dass Säuglinge in alten Kulturen bedeutend weniger schlafen, als es für Säuglinge unseres Kulturkreises üblich ist, eine Kultur, in der das Kind die meiste Zeit getrennt von den Fürsorgepersonen im Kinderwagen, eigenem Bett, Wippstuhl etc. liegt. Ein Kind am Körper eines Trägers gestattet sich kleine Nickerchen, womit es ausgezeichnet tagsüber klarkommt, z. B. schläft ein Trobriandkind (Papua-Neuguinea) durchschnittlich knappe 12 Stunden rund um die Uhr (Henzinger, 2000; Schiefenhövel & Schiefenhövel, 1996; Schiefenhövel, 1990). Dieses Forschungsresultat könnte dahingehend interpretiert werden, dass Kinder, die vom physischen Kontakt und dem sozialen Leben getrennt sind, viel mehr schlafen, weil sie mangels spannender Beobachtungsmöglichkeiten sich langweilen und einsam sind.

Die verbal-kognitive Kommunikation ist in unserer Kultur (unverhältnismäßig?) wichtig, so wichtig, dass Experten den Eltern empfehlen, ihren Säugling diesbezüglich von Anfang an zu beeinflussen. Eine solche Fürsorge ist in traditionalen Kulturen unbekannt; verbale Kommunikation zwischen der Bezugsperson und dem Säugling kommt bei diesen Menschen sehr selten vor (Liedloff, 1996; Schiefenhövel, Schiefenhövel, 1996).

Unsere verbal-kognitive Beeinflussung ist oft mit intensivem Blickkontakt zwischen dem Sprössling und der Mutter/ dem Vater verbunden. Um sich zu erholen, muss das Kind in regelmäßigen Abständen den Kopf zur Seite drehen. Gleichzeitig werden vom Abkömmling  «adäquate» Reaktionen erwartet. Es könnte sein, dass unsere Art der Fürsorge anstrengend ist, vielleicht sogar zu eindringlich. Die Kinder unserer Kultur bekommen zu selten die Gelegenheit, «nur zu sein» und still von einem beweglichen, geborgenen Posten aus beobachten zu dürfen. Es könnte sein, dass unser Säugling aus diesem Grund mehr Schlaf benötigt, wenn er einerseits lange Zeit einsam ist, andererseits aber kurzfristig dem zu eindringlichen Kontakt ausgesetzt wird.

Das Tragen des Kindes
- eine optimale Entwicklung der Gehirnkapazitä
t

Das Lernen und die Sozialisation des Säuglings wird in alten Kulturen zum größten Teil, außer beim Tragen am Körper, ohne direkte Beiträge der Bezugsperson erreicht. Diese Art Fürsorge hat trotzdem großen Einfluss auf die optimale und einheitliche Entwicklung des Gehirns:

Die Umwelt prägt den Organismus auf vielfältige Weise. Stimuliert werden wir durch die neuralen Aktivitäten im Auge, im Ohr (wo unter anderem die Gleichgewichtsorgane liegen) und die zahllosen Nervenendigungen in Haut, Geschmacksknospen und Nasenschleimhaut (Damasio, 1997). Die vom Kind beobachteten Sinneseindrücke zu strukturieren, zu ordnen und miteinander zu verbinden ist die Voraussetzung, sich einmal orientieren zu können. Diese Leistung kann unter dem Begriff «Integration» zusammengefasst werden. Die im Zentralnervensystem stattfindende Bearbeitung von sämtlichen Sinneseindrücken bewirkt, dass das Kind koordiniert und kontrolliert auf alle Signale der Umwelt reagieren kann (Kirkilionis, 1999; Klein, 1995).

«So, wie die Wissenschaft heute das Grundprinzip des Wachstums und der Entwicklung versteht, kann ein Sinnessystem nur funktionieren oder immer besser funktionieren, wenn es auch benutzt wird; nicht aktiviert verkümmert es allmählich» (Kirkilionis, 1999) Ereignisse werden, im Takt der Entwicklung des Gehirns, immer detaillierter und nuancierter vom Kind aufgefasst. Es bedeutet, dass die Säuglinge die Welt erst in groben Zügen, später in immer feineren Einzelheiten sehen. Eine Anekdote kann dieses veranschaulichen:

In der Regel besorgte ich, mit meiner Enkeltochter auf der Hüfte im Tragetuch sitzend, den Abwasch. Eines Tages verlies sie die Beobachterrolle, beugte sich nach vorn und griff nach der Bürste. Mit der Bürste in ihrer Hand rührte und rührte sie rasch im Spülbecken herum. Das Besteck klapperte am Boden, es roch nach Spülmittel und das Schaumwasser spritzte. Sie wurde nass. Die Hand und die Bürste machten einen Bogen nach rechts, hin zum Trockenständer. Dort, ein paar mal Tuckern mit der Büste, dann wieder zurück zum Becken. So wiederholte sich alles.
Nach dem vierten Mal verstand ich endlich die dahinterliegende Absicht: (einen Gegenstand) mit der Bürste im Becken abwaschen – die Hand (mit dem Gegenstand) im Bogen nach rechts schwingen – (den Gegenstand) auf den Trockenständer setzen. Das war es, was mein knapp sieben Monate altes Enkelkind von ihrem beweglichen Beobachtungsposten aus, von meiner Aktivität erfasst hatte.

Diese differenzierten Stimuli der Berührungs-, Geruchs-, Gehörs-, Geschmacks- und Sehsinne sind von zentraler Wichtigkeit für die Entwicklung des Säuglings, sagt auch der Forscher und Mediziner Wulf Schiefenhövel und fügt die Bedeutung der emotionalen, sozialen und mentalen «Inputs», die ein jeder Tragling erhält, hinzu. Dieses hat das Zentralnervensystem seit Urzeiten zu seiner vollen Leistungsfähigkeit benötigt. (Schiefenhövel, 1990). Die „Inputs“ sind tatsächlich vielfältig: Ein Tragling lässt sich willig und mit Leichtigkeit in der Schlinge hin und her schieben. Es hängt davon ab, ob die Trägerin geht, läuft, Essen sammelt oder kocht, isst, sauber macht, im Kanu paddelt, ob sie Körperpflege betreibt, tanzt oder badet. Das Baby ist immer in Bewegung und an verschiedenen Orten des Körpers einer Person, die mit eigenen Vorhaben beschäftigt ist (Liedloff, 1996).

Wenn das Kind am Körper einer Person hin und her geschoben wird, verändert sich der Beobachtungswinkel; das Kind muss rasch den Kopf in neue Richtungen drehen, um weiter mitfolgen zu können. Beugt sich der Träger und der Träger hat etwas an, wo es sich festhalten kann, greift ein etwas älteres Kind sofort zu. Das Erlebnis, den Kopf nach unten hängen zu haben – die Welt steht auf dem Kopf – aktiviert die Vestibularflüssigkeit. Solche Erlebnisse sind für die Entwicklung des Gleichgewichtssinnes von Bedeutung.

Das physisches und psychisches Wohlbefinden ist sehr wichtig für die mentale und soziale Entwicklung, denn die Aufmerksamkeit kann dann nach außen zur Umwelt gerichtet werden, anstatt nach innen zu Angst, Unbehagen oder Schmerz. Am «Körper in Bewegung» zu sein, löst Wohlbefinden aus und Wohlbefinden wird im Cerebellum durch Bewegung ausgelöst. Das Cerebellum ist einzigartig; der einzige Teil des Gehirns, wo die Anzahl der Zellen sich noch lange nach der Geburt vermehren. Da die Bewegung in einen Strom von Impulsen zum Cerebellum hin resultiert und die optimale Entwicklung von diesem Strom abhängig ist, ist das Tragen des Kindes ein grundlegender Beitrag zur normalen mentalen und sozialen Entwicklung (Restak, 1979). Es mag sein, dass die Erfindung «Babymassage», die auch Wohlbefinden auslöst, ein Ersatz des Körperkontaktes und der Bewegung ist, die ein Tragling mehrere Stunden so selbstverständlich bekommt. Aber warum sollen wir unsere Säuglinge mit Substituten vertrösten –  mit etwas, was sogar für die Eltern finanzielle Ausgaben bedeutet?

Mit der Erfindung des Kinderwagens in der Victoriazeit und dessen Ausbreitung wurden die meisten Kinder in unserer Kultur des häufigen Körperkontaktes und der gleichzeitigen und vielfältigen Sinneseindrücke beraubt. Besonders ist das in den Gebieten der Fall, wo das Baby im Kinderwagen in langen Perioden mit großen und schweren Wärmesäcken umgeben und der Wagen mit Klappverdeck, Regenhaut oder Decken versehen ist. Das Kind kann eventuell hören, vielleicht auch riechen, aber es kann nichts sehen, nichts auf der Haut von dem fühlen, was außerhalb des Wagens vor sich geht.

Die Bewegung des geschobenen Kinderwagens kann nicht die rhythmische Bewegung und die Nähe eines Trägers ersetzen. Heute sollten wir die Erfindung «Kinderwagen» als ein evolutionäres Ausprobieren eines Werkzeuges ansehen, jedoch ein fehlgeschlagenes Werkzeug, das vom Tragehilfen ersetzt werden sollte.

Wenn das Kind saugt

In „alten Zeiten“ wurde das Kind erst am Tag nach der Geburt an die Brust gelegt. Die erste Milch – das Kolostrum – sollte das Kind nicht bekommen, es herrschte ein sogenanntes Kolostrum-Tabu. Heute ist dieses Tabu unbegreiflich: Wir wissen jetzt, dass die erste Milch für das Kind wichtige Stoffe zur Immunstärkung enthält (Henzinger, 1999). Die Natur weiß es doch am besten!
Das Kolostrum-Verbot bewirkte, dass die Milchproduktion nur verzögert in Gang kam, wodurch die Mütter stark verunsichert wurden. Der Rat, nach einem festen Zeitschema, jede dritte oder vierte Stunde, zu stillen, führte zusätzlich dazu, dass viele gesunde Frauen nicht genug Milch produzieren konnten. Viele Ärzte und Schwestern empfahlen als Lösung, eine Milchmischung oder teuren Muttermilchersatz in Fläschchen mit Sauger zuzufüttern. Heute noch herrscht häufig eine ungünstige medizinisch-industrielle Bindung (BDl, 2005; Børresen H Chr, 2003).

Inzwischen wissen wir auch, dass der entscheidende Faktor für eine ausreichende Milchproduktion ein häufiges Stillen von Geburt an ist. Das bedeutet, dass jedes Mal dem Kind die Brust angeboten werden sollte, wenn das Kind Signale wie Suchen, Schmatzen, an der Hand saugen, rasche Augengliedbewegungen, sanfte Babylaute oder Seufzen und Unruhe, zeigt. „Die Beachtung der frühen Hungerzeichen ermöglicht und unterstützt das korrekte Saugen“ (VELB, 2000). Erst wenn diese Signale überhört bzw. übersehen werden, benutzt der Säugling stärkere Signale wie Nörgelei und Schreien! Da aber manche Säuglinge unserer Kultur sogar ihren Bedarf verschlafen, kann es vorkommen, dass ein Säugling geweckt werden muss, um auf mindestens acht Mahlzeiten per 24 Stunden zu kommen. (VELB, 2000)!

Es gibt einleuchtende physiologische Gründe dafür, dass der Mensch ein Säugetier der Traglinge ist: Unsere Milch ist reich an Kohlenhydrate, die von einem zuckerhungrigen und relativ großen Gehirn in Mengen verbraucht werden. Bei einem neugeborenen Menschenkind macht das Gehirn 10% des Körpergewichtes aus, und es benötigt selbst im Ruhezustand 50% des gesamten Energiebedarfs. Gleichzeitig ist die Leber relativ klein und hat nur für kurze Hungerperioden genug Glykogen (Glykogen ist die Speicherform für Kohlenhydrate in der Leber). Bein einem hungriger Säugling sinken die Blutzuckerwerte schneller als bei einem Erwachsene (es bekommt schneller Hypoglykämie). Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb ein Säugling oft – auch in der Nacht – gestillt werden muss (persönliche Mitteilung, Hans Christofer Børresen). Ein etwas größeres „Steinzeitalterkind“, das mit der Mutter schläft, findet nachts selber die Brust, ohne dass die Mutter ganz wach werden muss.

Bei uns Primaten ist der Gehalt von Protein und Fett in der Muttermilch verhältnismäßig niedrig. Das hängt damit zusammen, dass Wachstum und Entwicklung des Gehirns erste Priorität hat, während Muskelmasse und Körpergewicht weit langsamer zunehmen. So ist es möglich, dass das Kind lange getragen werden kann (Børresen HCh, 1985, 1995). Die Säugetiere der „Nest-Sorte“ (z. B. die Katzentiere) haben ein kleineres Gehirn und brauchen deshalb weniger Glukose, dafür aber mehr Fett und Protein, um ein schnelles Wachstum des Körpers zu erreichen. Deren Neugeborene können schon kurz nach der Geburt auf eigenen vier Beinen stehen und benötigen schnell kräftige Muskeln zum Mitlaufen.
Beim natürlichen Stillen, dem sogen. „feeding on demand ist übrigens der Fettgehalt der Menschenmilch am höchsten, wenn die Brust nur halb voll ist. Überfüllte Brüste liefern fettarme, aber nicht fettlose Milch (persönlich Mitteilung, Hans Christoffer Børresen und Gudrun von der Ohe).

Bei zu seltenem Stillen – besonders in Wärmeperioden oder wenn die Mutter Probleme hat, genügend Milch zu produzieren, kann das Suchen des Säuglings nach der Mutterbrust von Durst ausgelöst werden. Sein Wasserbedarf  ist hoch – bis zu 20 % des Körpergewichtes, rund um die Uhr. Darum ist die Muttermilch wasserhaltig, und ein kindgesteuertes Stillen ist bei Hitze oder Fieber ein guter Schutz gegen Dehydation (Austrocknen). In milcharmen Perioden kann das Kind noch öfter angelegt werden, um seinen Wasserbedarf zu decken. Durch häufigeres Anlegen wird wiederum erhöht die Milchproduktion erhöht! In Kulturen, wo kindgesteuertes Stillen selbstverständlich ist, ist es kaum denkbar, dass die Säuglinge unter Durst leiden: Sie haben verdünnten Urin, ein Zeichen reichlicher Wasserzufuhr (persönlich Mitteilung, Hans Chr. Børresen).

Ein kindgesteuertes Stillen setzt voraus, dass der Träger sofort die Signale des Kindes (siehe oben) erkennt. In traditionalen Kulturen vergehen durchschnittlich nur sechs Sekunden zwischen dem Signal und der Reaktion des Trägers! Diese rasche Reaktion ist eine speziestypische Reaktion (Liedloff, 1996; Schiefenhövel, 1999). Ein zusätzlicher Nachteil zu langer Abstände zwischen den Mahlzeiten ist die Gefahr, dass der kleine Magen – bei einem 10 Tage alten Säugling ist er nicht größer als ein Tischtennisball, der durch zu große Flüssigkeitsmenge ausgeweitet würde. Die Folge ist das „typische“ Milchausspucken nach dem Stillen. Natürliches, häufiges Stillen bedeutet kleinere Milchmengen zur Zeit.

Es ist Besorgnis erregend, dass ein Drittel aller Säuglinge unserer Kultur unter häufigen Koliken leidet. Dieses Phänomen haben Forsche knapp in traditionalen Kulturen beobachten können, genau so wenig wie das Auf-die-Schulter-Legen des Kindes nach dem Trinken mit dem damit verbundenen Rückenklopfen und Warten aufs „Bäuerchen“ oder „Milch wieder Ausspucken“ (Schiefenhövel & Schiefenhövel, 1996). Diese Tatsache ist übereinstimmend mit Liedloffs Beobachtung von dem Verhalten der Yequanas in Venezuela (1996). Säuglinge, die nach eigenem Bedarf saugen dürfen, brauchen nicht ausgehungert große Milchmengen zu trinken. Deswegen haben diese Kinder auch keine Probleme, die verhältnismäßig kleinen Portionen im Magen zu behalten und zu verdauen. Da Traglinge aufrecht am Körper eines Trägers sitzen, kann eventuell mitgeschluckte Luft problemlos entweichen.

Nach dem bisherigen Forschungsstand ist das Manipulieren der freien Brust der Mutter eine universale Verhaltensweise des Säuglings. Wenn die Brust nicht zugedeckt ist, kann das Kind währen des Stillens seine Hand darüber legen und auf eine spezifischen Weise mit der Brustwarze spielen. Eingehende Analysen zeigen eine neue physiologische Dimension: Durch die zeitweise intensiven Manipulation der Brustwarze wird unter anderem die Erhöhung der Milchproduktion stimuliert (Schiefenhövel, 1990).

Ein wichtiges Element beim Stillen in mehreren traditionalen Kulturen ist, „dass das Kind die Brustseite selber wählen, die Brust auch wechseln und die Dauer des Saugens bestimmen darf.  Wahrscheinlich reguliert es damit selber die Zufuhr von Flüssigkeitsvolumen, Nähr- und Schutzstoffen. Bisher aber besitzen die Forscher hierüber leider nur unzureichende Kenntnisse. Diese Eigenkontrolle ist dem Kind aber nur beim «feeding on demand» möglich, bei Bedarf bis zu vier Mal pro Stunde! Die Stilldauer, die Art zu saugen (kurzes, oft unterbrochenes, oder längere Zeit durchgehendes Saugen), Saugdruck und das Stimulieren der freien Brust haben einen Einfluss auf eine unterschiedliche Mischung an wässrigen und festen Bestandteilen der Muttermilch (Schiefenhövel, 1990). Möglicherweise spielt in diesem bedürfnisorientierten Trinken des Säuglings auch die Seitenwahl der Brust eine Rolle? Mir war es leider nicht möglich, durch Beobachten erkennen zu können, warum ein Kind manchmal weinte und nicht die angebotene Brust nehmen wollte, während es sofort ruhig wurde und saugte, sobald die Mutter die Brustseite wechselte. Es war jedes Mal Milch in beiden Brüsten. Vielleicht können Forscher in Zukunft den Grund dafür heraus finden.

Noch etwas Wichtiges:  Ein Element beim Stillen und dem Hautkontakt dabei ist, dass dies wahrscheinlich effektiv den Respons auf  das Schmerzempfinden lindern kann, zum Beispiel, wenn dem Neugeboren eine Blutprobe entnommen wird (Carbajal, Veerapen, Coudere, Jugie & Ville, 2003). 

Hüftdysplasie

- ein unbekanntes Phänomen in alten Kulturen

«Im Fall des Homo sapiens sapiens konnte es sich die Evolution leisten, das Bauteil für  die spätere Bewegungsmechanik zwischen Becken und Bein erst in den Monaten nach der Geburt fertig zu stellen; denn das Hüftgelenk ist zu Beginn merkwürdig unfertig, enthält viel weniger knöcherne Strukturen als anderen Teile des Skeletts, stattdessen embryonalen Knorpel“. (Schiefenhövel, 1990, S. 202).
Wenn ein Neugeborenes oder ein Säugling auf der Hüfte eines Trägers sitzt, nehmen die Beine einen Spreizwinkel von durchschnittlich 45 Graden ein. Das heisst, die Oberschenkel bekommen im Hüftgelenk einen Winkel von 90 bis 120 Grad, eine Position, die genau der anatomischen Voraussetzung entspricht. Das Wechselspiel zwischen Hüftsitz einerseits und dem zeitweise kräftigen Zusammenziehen der Muskeln des Oberschenkel, der Gesäss- und unteren Rückenregion andererseits, formt das normale Hüftgelenk des Kindes. Dies bedeutet, dass die normale Entwicklung des Hüftgelenkes vom richtigen Tragen des Kindes abhängig ist. (Kirkilionis, 1999; Schiefenhövel, 1990)

In alten Kulturen in Asien und Afrika ist die Hüftdysplasie oder die Luxation ein unbekanntes Phänomen. Gehen wir aber zu Indianerstämmen in Nordkanada zum Beispiel, wo Neugeborene nach alter Tradition auf Brettern festgebunden und gewickelt wurden, konnten bei 12,3 Prozent der Säuglinge diese Form des Leidens feststellt, in Kulturen ohne diese Tradition sind es etwa 1,2 Prozent (Kirkilionis, 1999). Diese Statistik zeigt mit aller Deutlichkeit, dass, wenn dem phylogenetisch erforderlichen Tragen nicht nachgekommen wird, sich die Oberschenkel des Kindes zu selten und zu kurz in der physiologisch strukturierten Spreizform befinden. Ein Teil des evolutionsbiologischen Zusammenspiels zwischen Form und Funktion - zwischen Morphologie und Ethologie – fehlt (Schiefenhövel, 1990).

In Deutschland hat das Tragen in mehreren Regionen seit gut zwanzig Jahren vorwiegend in den Städten eine Renaissance erfahren. Auch in Norwegen können wir immer öfters auf der Strasse, in Kaufhäusern, auf Flugplätzen und auf Wanderungen Eltern sehen, die ihren Kindern dieses intime Zusammensein bieten. Aber mit «schreckgemischter» Freude beobachte ich Mütter und Väter, die ihre Sprösslinge «innen - nach aussen» in Tragebeutel tragen – das Kind hat Aussicht nach vorn, weg vom Körper des Trägers. Ich nehme an, dass dies mit der Absicht gemacht wird, die Neugier des Kindes zu befriedigen. Sehen wir genau hin, hängen die Beine des Kindes gerade nach unten (dies gilt auch für das Tragen Bauch an Bauch bei mehrere andere Trageeinrichtungen), wobei das Hüftgelenk gestreckt wird. Der so wichtige und richtige anatomische 90 - 120 Grad Spreizwinkel der Oberschenkel ist nicht berücksichtigt. Hierdurch kann die korrekte Hüftentwicklung gefährdet und der kleine Rücken überanstrengt werden.

Andere Einwände gegen das «innen - nach aussen»Tragen sind, dass zwar das Kind viel zu sehen bekommt, aber es kann sich den Eindrücken nicht entziehen, es kann sich nicht an den Körper des Trägers wenden. Es wird zu viel des Guten. Das Kleine kann sich in erschreckenden Situationen auch nicht rasch an der Mimik des Trägers orientieren. Aus diesen Gründen raten Fachleute von dieser Tragform ab und empfehlen eine sehr genaue Wahl des Tragwerkzeuges (Kirkilionis, 1999).

Diskussion

«Ihr Norweger seid merkwürdig. Ihr müsst alles erklären. Wir tun es einfach», sagt eine Frau. Sie stammt aus einer Kultur, wo Kinder schon immer am Körper getragen wurden und es auch heute noch so gemacht wird. Die Frau hat recht, was dieser Artikel bestätigt. Die Entwicklung in unserer eigenen Kultur hat sich weit von der „primitiven Intimität“, von dem jeder Säugling abhängig ist und die er vom Zeitpunkt seiner Geburt an erwartet, entfernt. Wir haben unsere Entwicklungsgeschichte vergessen. Mühsam müssen wir sie wieder entdecken und gründlich ihre Existenz untermauern, bevor wir eventuell wagen, die Konsequenz daraus zu ziehen.

In meinem evolutionären Modell der Säuglingsfürsorge habe ich auf zwei Hauptelemente Gewicht gelegt: Körperkontakt – meistens durch das Tragen am Tag und dem Schlafen neben der Mutter nachts – und dem selbstregulierten Stillen, auch nachts. Nicht alle Aspekte dieser zwei Hauptelemente hatten in diesem Artikel Platz. Dem einen oder anderen in unserer eigenen Kultur mag dieses Modell unerreichbar erscheinen. Das Thema «Vollstillen» führt immer wieder zu Diskussionen und Kampf in den norwegischen Medien. Die Überschrift «Auf der Weltspitze der Stillhysterie» (Ulvund, 2001) ist auf die Oberärztin Dr. Gro Nylander gemünzt, die sich schon längere Zeit für die «Stillsache» eingesetzt hat.

In einer Gesellschaft wie der unseren lebt eine stillende Mutter während der Mutterschutz-Zeit oft isoliert. Viele Frauen sind den grössten Teil des Tages ohne soziale und intellektuelle Stimuli und ohne Herausforderungen durch andere Erwachsene. In traditionalen Kulturen betreuen frischgebackene Mütter ihre Kinder nicht abgesondert in Häusern oder Wohnungen, während das übrige Leben ohne sie weiter läuft. Die Frau ist dort ein integrierter Teil der Gruppe und sie setzt ihre Funktionen innerhalb der Gemeinschaft wie vorher fort.

In unserer Kultur kann ein Kind seine Mutter, wenn sie sich gleichzeitig adäquat um ihr Kind kümmern möchte, daran hindern, eine einflussreiche Stellung zu bekommen. Eine Frau, die einen längeren Erziehungsurlaub beanspruchen möchte, läuft Gefahr, ihre erkämpfte einflussreiche Position zu verlieren.  Frauen haben immer noch nicht den natürlichen und erforderlichen Platz in unserer Kultur, um eine entscheidende Rolle in der Gesellschaftsentwicklung spielen zu können. Ihr Einfluss ist marginal – in Norwegen im besten Fall auf 40 Prozent quotiert. Um an der ethischen, politischen und religiösen Gesellschaftsentwicklung teilnehmen zu dürfen, müssen Frauen heute noch kämpfen. Und wie unsere Gesellschaft heute aussieht, haben Frauen kaum reale Möglichkeiten, die Entwicklung in Richtung einer frauen- und kindfreundlichen Gesellschaft zu verändern. Das evolutionäre Modell der Säuglingsfürsorge kann deshalb den Anschein einer naiven Utopie haben, einer Utopie, die außerdem in mehrere unrichtige und kinderfeindliche Theorien über die Psyche und das Verhalten des Säuglings zerfällt.

Trotz allem gibt es Eltern, die versuchen sich diesem Modell zu nähern. Auch mehrere alleinerziehende Mütter stillen heute ihr Kind nach dem Selbstregulierungsprinzip und tragen es am Körper. Für diese Leistung benötigen sie im großen Ausmaß Zusammenarbeit und Hilfe von Verwandten und Freunden. Das Stillen ist ausschließlich Frauenarbeit. Das Tragen aber ist keine «Ein-Personen-Sache». Den Säugling am Körper zu tragen, gewährleistet eine reelle Möglichkeit, Nähe zu spenden und zu empfangen. Wenn dieses Tragen nach den Prämissen des Säuglings geschieht, d.h. bei Signal eine rasche Rückgabe an die Mutter, baut sich in dem Säugling ein grundlegendes Vertrauen zum Träger auf.

 

Referenzen

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