Der Mensch - ein Säugetier der Traglinge
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Über experimentelle Forschung an Neugeborenen und Säuglingen

Der Artikel ist 2004 in der Zeitschrift des Norwegischen Psychologen Verbandes (Tidsskrift for Norsk Psykolog Forening, 41 , 736-739) unter der Rubrik „Debatt og Kommentar“ veröffentlicht.

Originaltitel: „Eksperimentell forskning med nyfødte og spedbarn“
Übersetzung: die Autorin und Ingeborg Butz. .

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Solveig Albrecht Wahl

Each year experimental research is conducted worldwide on a substantial number of newborns and infants. One might question the ethical aspects of some of the methods used to obtain new knowledge: Newborns come into the world with a set of expectations, such as continuous physical contact with a caretaker. This aspect has not been taken into consideration in experimental research. Ethical guidelines clearly state that human dignity means that each of us have interests that cannot be denied in order to acquire knowledge or benefit society in any other way. The particular interests of the young test persons should be protected by clearly defined ethical guidelines concerning experimental research on newborns and infants.

Einleitung

Neuere Forschungsergebnisse führten dazu, dass sich unsere Auffassung über die Fähigkeiten der Neugeborenen und Säuglinge geändert hat. Bis vor einigen Jahren wurde Menschen in dieser Altersgruppe weder Bewusstheit, noch nuancierte Gefühle, noch die Fähigkeit zu lernen zugeschrieben. Die experimentelle Forschung an Neugeborenen und Säuglingen hat jedoch gezeigt, dass ein Säugling schon in den ersten Stunden, Tagen und Wochen Erwartungen zeigen, imitieren und sich erinnern kann. So waren auch Fachleute überrascht, als Filmaufnahmen zeigten, dass ein Neugeborenes die Hand ausstrecken kann, um ein Objekt (z.B. ein Gesicht) zu erreichen (Klaus & Klaus, 1998). Allerdings gibt ein Teil der experimentellen Methoden, die dieses Wissen hervorgebracht haben, Anlass zu ethischen Fragen. Darum ist es wichtig, die ethischen Grundsätze, denen die Forschung an Menschen unterliegen, unter diesem Aspekt zu diskutieren.

Ethische Grundsätze

In der Helsinki-Deklaration (World Medical Association, 2000), Absatz 21 heißt es: „Das Recht der Versuchspersonen auf Wahrung ihrer Unversehrtheit muss stets geachtet werden“. Unter Absatz 22 wird gesagt: „Die Versuchsperson ist darauf hinzuweisen, dass sie das Recht hat, ... eine einmal gegebene Einwilligung jederzeit zu widerrufen ...“. Wenn Menschen als Forschungsobjekte dienen, gilt die freiwillige Einwilligung der informierten Versuchspersonen als prinzipielle und unumgängliche Forderung. Versuchspersonen können aber eine reduzierte Autonomie haben – eine nicht vollentwickelte Fähigkeit, willentlich und selbständig Stellung zu eigenen Interessen zu nehmen (Tranøy, 1994). Wenn die Einwilligung der Versuchspersonen durch ihre reduzierte Autonomie schwierig ist, kann sie durch die des gesetzlichen Vertreters in bestimmten Situationen gesichert werden, heißt es in den norwegischen Grundsätzen für Forschung an Menschen (Den nasjonale forskningsetiske komité, 1999). Man kann allerdings nicht davon ausgehen, dass die Einwilligung der Eltern (bzw. die der gesetzlichen Vertreter) immer mit den Interessen des Kindes überein stimmt (Ruyter & Nyquist, 1999).

In den oben genannten (norwegischen) ethischen Grundsätzen (Den nasjonale forskningsetiske komité, 1999) wird gesagt: „Die Würde des Menschen beinhaltet, dass jeder von uns Interessen hat, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen, selbst wenn neue Einsicht erlangt oder auf andere Weise der Allgemeinheit gedient werden könnte (S. 11 - meine Übersetzung). Dies wirft eine andere zentrale Frage auf: Wie können wir etwas über die Eigeninteressen eines Säuglings herausfinden? „Forschung ist nötig, um die Würde des Menschen zu fördern, sie kann diese aber auch bedrohen“, steht weiter in den ethischen Grundsätzen (S. 11 – meine Übersetzung). Ein Säugling kann sich nicht durch Sprache mitteilen. Seine Willensäußerungen – außer Weinen und Schreien – werden deshalb von dem Forscher/ der Forscherin leicht „überhört“. Damit ist die Möglichkeit dieser Versuchsperson, jederzeit aus dem Versuch auszuscheiden, in Frage gestellt, wodurch deren Menschenwürde bedroht ist.

Angeborene Erwartungen

Wenn die Würde des Menschen beinhaltet, dass jeder von uns Interessen hat, die der Forscher nicht außer Acht lassen darf, müssen wir uns die spezifischen Interessen der Neugeborenen und Säuglinge ansehen: Da die genetische Anpassung langsamer vor sich geht als die kulturelle, muss man den Menschen, genetisch gesehen, auf vielen Gebieten immer noch als Steinzeitjäger- und -sammler betrachten (Mysterud, 2003). Im Folgenden gehe ich von einer der wahrscheinlich genetisch bestimmten Erwartungen des Säuglings aus – seiner Erwartung, im mehr oder minder kontinuierlichen Körperkontakt mit einer Bezugsperson zu sein (Hrdy, 2000; Wahl 2001). Wie alle anderen Primaten kommt auch der Mensch mit seiner eigenen Agenda auf die Welt. Ein Neugeborenes ist mit einer Anzahl von angeborenen „Erbkoordinationen“ ausgestattet, die die Möglichkeit des Überlebens sichern sollen. Ein Primatenkind unternimmt buchstäblich alles, um sich beschützt zu fühlen und Fürsorge zu erlangen: Es versucht sich an irgendjemanden (oder auch irgendetwas) anzuklammern, es sendet verzweifelt „Rufe“ aus, weint, schreit und streckt die Arme aus (Hrdy, 2000).

Über Millionen von Jahren ist es für Primaten-Kinder eine unumgängliche Überlebensstrategie gewesen, sich an einem Pelz festklammern zu können. Primaten sind deshalb von Geburt an sowohl mit dem Greifreflex als auch dem Mororeflex ausgestattet (Hess, 1997) – Werkzeuge die den engen Körperkontakt sichern. Selbst wenn wir den Pelz „verloren“ haben, werden wir heute noch mit diesen Reflexen geboren. Die Folgerung, die hieraus gezogen werden kann, ist, dass diese Reflexe einer der Indikatoren dafür sind, dass auch der Mensch mit der Erwartung geboren wird, im engen Körperkontakt zu sein – getragen zu werden.

Wenn ein Neugeborenes auf den Körper der Mutter gelegt wird, hört es sofort auf zu weinen, wie eine Studie beweist (Christensson, Cabrera, Christensson, Uvnäs-Moberg & Winberg, 1995). Forscher betrachten deshalb das Weinen als einen Ruf um Hilfe, den Körperkontakt wieder herzustellen. Dieser Hautkontakt kann die negativen Folgen des Geburtsstresses verringern, er spart Energie – die Temperatur wird aufrecht erhalten – und er beschleunigt die Stoffwechselanpassung (Bystrova et al, 2003; Christensson et al, 1992). Eine andere Studie (Hunziker & Barr, 1986) zeigt, dass Säuglinge, die mindestens drei Stunden täglich getragen werden, bedeutend weniger weinen als Kinder, die die für unsere Kultur übliche Fürsorge bekommen. Feldstudien (siehe z.B. Schiefenhövel & Schiefenhövel, 1996) in Kulturen, wo der kontinuierliche Körperkontakt zwischen dem Säugling und einer Trägerin/ einem Träger eine Selbstverständlichkeit ist, deuten darauf hin, dass ein anhaltendes Schreien bei gesunden Säuglingen praktisch nicht vorkommt. Diese Art von Fürsorge scheint aus den gemeinsamen entwicklungsgeschichtlichen Erfahrungen der Menschheit zu stammen.

Enger Körperkontakt hat eine Doppelfunktion: Für das Kind: Es bekommt eine emotional, psychisch und physisch geschützte Basis. Darüber hinaus löst die andauernde Bewegung Wohlbefinden aus (Restak, 1979). Und für den Träger/ die Trägerin: er/ sie wird gegenüber den Signalen des Säuglings sensibilisiert und kann diese dadurch schneller deuten.

Zeichen von Stress – die Willensäußerung des Kindes

Ein Säugling kann Stress und mangelndes Wohlbefinden auf vielfältige Weisen – nicht nur mit Weinen – signalisieren: „Vertikales Stirnrunzeln“ ist ein Zeichen des Unbehagens und des Stresses, und ein nach hinten gebogener Körper signalisiert Angst. Andere Zeichen sind weit aufgerissene Augen, Grimassen, Änderung des Atemrhythmus, geballte Fäuste, das „Fechten“ mit Armen und Beinen oder auch Bewegungshemmungen. „Das höchste Maß an Geborgenheit ... erlebt das Kind ... wenn die grösstmögliche Fläche vom Körper des Kindes im Kontakt mit dem Mutterkörper steht. Es muss ihr ventro-ventral anliegen ...“ (Hess, 1997, S. 241) Hier ist von Sprösslingen der anderen großen Primaten die Rede, aber das Gleiche wird auch für unsere Säuglinge gelten.

Signale von Stress unter den jüngsten Versuchspersonen können also als eine adäquate Reaktion auf den fehlenden Körperkontakt gesehen werden – Reaktionen, die besonders in fremden Situationen und Umgebungen auftreten. Solches Verhalten sollte als eine nicht-sprachliche Übermittlung gedeutet werden, womit das Kind faktisch die Einwilligung der Eltern widerruft. Sein Eigeninteresse wird in allen Fällen sein, vom Körper eines ihm vertrauten Menschen aus die Umwelt beobachten zu können.

Experimente

Ich werde nun vier Beispiele von Versuchen mit Neugeborenen und mit Säuglingen vorstellen. Dabei werde ich untersuchen, ob hier eine Übereinstimmung zwischen den vitalen Interessen der jüngsten Versuchspersonen und ihrem Recht besteht, jederzeit die Teilnahme an dem Versuch zu beenden, und der Realität, die die Versuchssituation für die Individuen bedeutet.

1. Beispiel: Können Neugeborene imitieren?

„Melzoff und Moore ... testeten ... 40 Kinder, die weniger als 70 Stunden alt waren, und wo das Jüngste erst 42 Minuten bevor der Versuch anfing, geboren wurde ...“ (Smith & Ulvund, 1991, S. 47, in meiner Übersetzung). Hier möchte ich die Aufmerksamkeit auf das 42 Minuten alte Neugeborene richten. Das Getrenntwerden von der Mutter während der Dauer des Experimentes kann das Dilemma, in das Forschung verwickelt werden kann, anschaulich machen: „Früher war es nahezu ein Tabu zu denken, dass das menschliche Verhalten in Verbindung mit der Geburt wie bei Tieren sein sollte: ‘von einem Programm gesteuert'“ (Nordstrøm, 1993 – in meiner Übersetzung). Wenn ein neugeborenes Kind auf den Bauch der Mutter gelegt und sich selbst überlassen wird, wird es erst einmal ungefähr 10 Minuten sich ausruhen – etwas dösen. Dann wird es den Kopf bewegen, die Augen öffnen, die Mutter ansehen, seine Hand an den Mund führen (der Geschmack und Geruch vom Fruchtwasser an den Händen ist mit dem Geruch der Mutterbrust identisch). Es fängt an zu schmatzen und mit dem Mund zu suchen. Die Phase des Krabbelns beginnt; nach mehreren Ruhepausen wird es frühsten nach circa 39 Minuten die Brustwarze erreichen (ungefähr zur gleichen Zeit, in der das obengenannte Neugeborene schon als Versuchsperson diente), und frühestens in der 59. Minute saugt der Neuankömmling. Dabei haben Sprössling und Mutter intensiven Augenkontakt (Klaus Klaus, 1998; Righard & Alade, 1990; Widstrøm et al, 1987).

Gesunde Neugeborene, die nicht gestört werden, nicht von Medikamenten beeinflusst sind und deren vorgeburtliche Phase ohne Komplikation verlaufen ist, werden dem obengenannten Muster folgen können (Ransjø-Arvidson et al, 2001; Righard & Alade, 1990; Widstrøm et al, 1990). Diese angeborene Fähigkeit deutet auf die Erwartung des Fötus, nach der Austreibung im Körperkontakt mit der Mutter zu sein. Von der Mutter entfernt zu werden, um an einem Experiment teilzunehmen, steht deshalb im Widerspruch zu den Eigeninteressen der Versuchsperson.

2. Beispiel: Amund – eine Versuchsperson

Aus dem Radio, NRK P2, ertönt das intensive Weinen eines Säuglings. Das Weinen nimmt ab und verstummt zum Schluss. „Nun ist Amund eingeschlafen. Das konnte er mit gutem Gewissen tun“, höre ich die Programmleiterin sagen (Verd å Vite, 27.10.1998). Amund ist einen Monat alt, und gerade eben Versuchsperson in einem Experiment gewesen. Der Versuch bestand darin, dass Amund „auf dem Rücken auf einem Babybett angebracht wurde, welches aus einem Tisch mit einem Wickelkissen bestand. ... Der Kopf wurde mit Hilfe eines Vakuumfixationskissens in der Mitte gehalten“ (Gjessingen, 1999, in meiner Übersetzung). Amund bekam dann an jeder Hand einen Lautsprecher befestigt und Messinstrumente an die Handgelenke. Anschließend wurde die Mutter in einen schalldichten Raum mit Einwegscheibe geschickt. Von dort aus sollte sie versuchen, Amunds Aufmerksamkeit zu wecken. Seinem Gemütszustand angepasst, redete oder sang sie ihm lauter oder leiser etwas durch das Mikrofon vor. Amund bekam ihre Stimme entweder durch den rechten oder linken Lautsprecher, die möglichst leise gestellt waren, zu hören.

Dem Forschungs-Bericht dieser Experimente ist zu entnehmen, dass einige der Versuchspersonen einschliefen und wieder geweckt werden mussten, dass Weinen vorkam und dass viele der Kleinen große Unruhe während der Experimente zeigten. Wie zu erwarten war, zeigten mehrere Kinder ein Protestverhalten. Dennoch wurde weiter gemacht, bis wenigstens 16 gelungene Versuche registriert werden konnten.

3. Beispiel: Neugeborene können Erwartung zeigen

“Blass und Mitarbeiter haben gezeigt, daß Kinder schon ab etwa zwei Stunden nach der Geburt lernen können, Reaktionen oder Geschehen zu erwarten. Als bedingter Stimulus (BS) wurde das Berühren der Stirn benutzt. Dieses Stimulieren war im Verhältnis zu dem unbedingten Respons, der eine Kopforientierung und ein Saugen mit Schmollmund war, in der Ausgangslage neutral. Unbedingter Stimulus (US) war eine Zuckerlösung, die dem Kind an Hand einer Pipette verabreicht wurde. Das Training fing zwei Stunden nach einer Mahlzeit an und dauerte eine knappe Stunde ... Es ist von Interesse zu bemerken, daß die Kinder der Versuchsgruppe in der Extinktionsphase mit Überraschung zu reagieren schienen, nachgefolgt von Stirnrunzeln oder einem zornigen Gesichtsausdruck, der dann in Weinen überging. Nach einer vorübergehenden Weinperiode pflegten die Kinder einzuschlafen.” (Smith & Ulvund, 1991, S. 44, in meiner Übersetzung).

Aus dem Alter der jüngsten Versuchspersonen muss man schließen, dass das Training entweder bereits in den ersten neunzig Minuten nach ihrer Geburt anfing – ein Neugeborenes ist dann noch hellwach und hätte in Hautkontakt mit der Mutter sein sollen – oder dass der hinterher so nötige Schlaf durch Manipulieren verzögert wurde. Die Jüngsten können unmöglich zwei Stunden vor Beginn des Versuches eine Mahlzeit bekommen haben, denn sie waren zu der Zeit noch nicht geboren. Die adäquaten Reaktionen der jungen Säuglinge, die durch dieses manipulierende Experiment ausgelöst wurden, zeigen die Sensitivität und die nuancierten Gefühlsausdrücke, über die sie schon verfügen. Es ist zu hoffen, dass das Verstehen der nicht-verbalen Übermittlung von Überraschung, Enttäuschung und Wut bei den kleinen Versuchspersonen dazu beiträgt, dass Forscher/ Forscherinnen auf ähnliche Experimente verzichten.

4. Beispiel: Klassische Konditionierung

Papousek führte experimentelle Versuche mit Konditionierung von 130 Säuglingen aus, davon waren ca. 40 Neugeborene (Smith & Ulvund, 1999, S. 126, 127). Das Experiment hatte seinen Ausgangspunkt im ”Rooting”-Reflex. Vor dem Konditionierungsversuch wurde zunächst registriert, wie oft jedes Individuum ein reflexbedingtes Kopfdrehen ausführte. Im nächsten Schritt wurde kurz vor der Berührung am Mund entweder ein Glocken- oder ein Summton präsentiert. Bei gewünschter Reaktion, d.h. Kopfdrehen nach links, bekam die Versuchsperson Milch. Wenn das Kind verstanden hatte, dass Glockenton kombiniert mit Berührung an der linken Mundregion und Kopf nach links drehen „Essen bekommen“ bedeutet, konnte die Berührung weggelassen werden. Das Kind war auf den Glockenton konditioniert. Der Versuch wurde zehnmal pro Tag, mit circa einer Minute Zwischenzeit, ausgeführt.

Die Konditionierung wurde dann weitergetrieben: Als die Versuchsperson gelernt hatte, was sie tun musste um Essen zu bekommen, bekam sie keine Belohnung mehr, selbst wenn sie den Kopf korrekt auf Signal hin nach der richtigen Seite drehte. Danach wurde die Versuchsanordnung noch durch ein Diskriminationsproblem erschwert: Nun sollte der Säugling lernen, zwischen Glocken- und Summton zu unterscheiden, den Kopf nach rechts zu drehen auf den Reiz „Glockenton“ oder nach links auf den Reiz „Summton“. Nach richtiger Reaktion bekam er Milch. Erst nach drei Wochen und 177 Versuchen begannen die Versuche den Erwartungen des Forschers zu entsprechen. Bei den Jüngsten dauerte es allerdings zweieinhalb Monate , bis sie zwischen Glockenton und Summer diskriminieren konnten. Bei mehr als 10 Konditionierungsversuchen pro Tag wurden die Kleinen schnell satt – trotzdem fuhren sie fort den Kopf zu wenden, wenn das Signal ertönte. Die Beobachtungen, die Papousek während dieser Lernprozesse bei den Säuglingen machte, sind aufschlussreich: Nicht-spezifisches Orientieren wie Aufsperren der Augen, Hemmung der anderen Körperbewegungen und Veränderung des Atemrhythmusses. Die Kinder der Neugeborenen-Gruppe waren unruhig, sie schnitten viele Grimassen – laut Versuchsbericht ein Zeichen des von den Tönen ausgelösten Unbehagens.

Der fehlende Zeitbegriff eines Säuglings ist für ihn völlig ohne Belang, so lange er getragen wird – der Tragling fühlt sich geborgen. Dieser Mangel aber ist bei Versuchen, in denen das Kind allein für sich liegen oder sitzen muss, ein ernsthaftes Handicap; die Versuchsperson hat nicht einmal die Hoffnung, dass der Versuch aufhören wird. Ein Erwachsener, in einem vergleichbar sinnlosen Versuch, könnte jederzeit seine Einwilligung widerrufen, während die Kleinen wie Roboter ihn “to the bitter end“ fortsetzen mussten.

Reflexionen

Die Anzahl der psychologischen Experimente mit Säuglingen ist weltweit nicht unbedeutend. Diese sind in den letzten Jahren sehr populär geworden (Smith & Ulvund, 1991). Die Forschung an Neugeborenen und Säuglingen sollte deshalb besonders unter Berücksichtigung ethischer Bedenken und Grundsätze bedacht werden. In der Literatur fehlt aber bis jetzt eine Thematisierung von psychologischen Versuchen mit so jungen Menschen unter ethischen Gesichtspunkten. Es ist bedenklich, dass dieses Thema in der öffentlichen Debatte kaum statt findet, obwohl Neugeborene und Säuglinge ohne Zweifel zu der Gruppe von Personen mit „ reduzierter Autonomie “ gehören (Tranøy, 1994).

Wie wir gesehen haben, ist die Unzulänglichkeit von sprachlichen Fähigkeiten nicht gleichbedeutend damit, dass die jüngsten Versuchspersonen sich nicht ausdrücken könnten. Es liegt wohl eher an unserer Unzulänglichkeit des Deutens der kindlichen Ausdrücke, die uns in unserer Kultur daran hindert, adäquat zu handeln. Wenn auch ein Säugling (bzw. ein Neugeborenes), der für sich alleine liegt oder sitzt, durch etwas „Interessantes“ oder „Unterhaltendes“ abgelenkt werden kann, so kann die Situation dennoch als Stress erlebt werden. Dies zeigt sich darin, dass eine halbe Stunde nach einem Experiment mit zwölf Monate alten Säuglingen erhöhte Werte vom Stresshormon Cortisol im Speichel einiger Versuchspersonen gefunden wurden (Spangler & Grossmann, 1993).

Entsprechend der (norwegischen) Nationalen Kommission (1999) beinhaltet die Menschenwürde, dass allen Menschen eigene Interessen zugestanden werden, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Das vitale Interesse des Säuglings ist, eng am Körper einer Bezugsperson zu sein. Keine Rücksicht auf die nicht-verbale Übermittlung von Stress und Angst zu nehmen und dieses als ein „nein“ zu deuten, verringert zusätzlich die schon reduziere Autonomie. Der Forscher/ die Forscherin hebt sich damit über das Recht der Versuchsperson hinweg, die eigene Integrität zu schützen. Die Forscher/ Forscherinnen können nur öffentliches Vertrauen erwarten, wenn sie die vitalen Interessen der Versuchspersonen berücksichtigen, das Risiko für deren mögliche Schäden auf ein Minimum beschränken. Und hierbei müssen auch die gefühlsmäßigen und psychischen Aspekte bedacht werden. (Montgomery, 2001).

Schlussfolgerung

Wenn es eine logische Übereinstimmung zwischen den forschungsethischen Grundsätzen und der reellen Wahrnehmung der vitalen Interessen vom Neugeborenen und Säugling geben soll, muss ich folgende Schlussfolgerung ziehen können:

•  Wir Menschen haben die – wahrscheinlich genetisch bedingte – Erwartung, nach der Austreibung in Hautkontakt mit der Mutter zu sein und sind programmiert, deren Brust selber zu finden. Dieser Kontakt kann die negativen Folgen des Geburtsstresses reduzieren, die Körpertemperatur aufrechterhalten, die Stoffwechselanpassung beschleunigen und der Trennungsangst vorbeugen: Eine perfekte Anpassung, die sich wahrscheinlich im Laufe unserer langen Entwicklungsgeschichte herausgebildet hat. Diese Faktoren sollten schwer genug wiegen, um zu fordern, dass eben Geborene von Experimenten verschont bleiben.

•  Das Wissen über die Bedeutung des Körperkontaktes sollte als Vorbedingung bei Experimenten mit Säuglingen gemacht werden. Versuche sollten nur so ablaufen dürfen, dass dabei der Säugling Bauch an Bauch (ventro-ventral) bei einer nahen Bezugsperson sein oder eventuell auf dessen Hüfte sitzen kann.

Wenn wir die Menschenwürde auch für diese spezifische Altersgruppe wahrnehmen wollen, müssen die obengenannten Bedingungen einen Platz in den forschungsethischen Grundsätzen bekommen.

Literatur

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